Kiew ist cool

Kiew ist cool

Kiew - eine tolle Stadt

Ihr erinnert euch? Zu fünft blieben wir nach dem Gottesdienst zusammen: Robert, Inga, Olga, Julie und ich. Man wollte uns Kiew zeigen. Zu Fuß. Also nur einen kleinen Teil davon. Aber einen besonders interessanten.  Bei absolutem „Kaiserwetter“. Fast schon zu warm.

Schräg gegenüber wartet schon das Regierungsviertel. Nichts wie hin. Aber so einfach geht das doch nicht. Das ganze Viertel (genauer: ein Straßenzug) ist mit hohen Gittern abgesperrt, und man muss durch eine Art Wachhaus, wo ein Soldat die Ausweise unserer ukrainischen Begleiter kontrolliert: Hier in "Google Street View"

An den Türen des Parlaments von Poroschenko

Unsere Pässe will keiner sehen. Was müssen wir harmlos wirken … Fast bin ich ein wenig enttäuscht. Ich frage nach Fotografiereinschränkungen. Nö, gibt‘s nicht. Das überrascht mich. In anderen GUS-Staaten wird man in siedendem Öl geschwenkt und anschließend von Enten totgewatschelt, wenn man es wagt, Regierungsgebäude abzulichten. Gleich am Anfang der Amtssitz des Staatspräsidenten Poroschenko. Wir posieren vor seiner Haustür. Ich klopfe an, aber er macht nicht auf. Na ja, es ist Sonntag. Vielleicht empfängt er uns ja gegenüber im "Haus mit den Chimären" zum Kaffee. Das dient ihm ja für Empfänge u.Ä. - also gehören wir ja wohl dahin. Aber der Stoffel rührt sich nicht. Dann eben nicht. Soll er seinen Kaffee alleine trinken. Das Haus im Jugendstil selbst ist ungemein beeindruckend und vollgepflanzt mit Skulpturen eben von – Chimären. Der Architekt war entweder besoffen oder genial. Wahrscheinlich beides. Kennt man ja von den Russen.

Das Chimären Haus

Es schließt sich an der riesige Komplex des Ministerpräsidialamtes, dann ein schmuckes kleines Häuschen, auf dem eine Tafel in kyrillischer Schrift verkündet, dass hier ein ganz berühmter Dichter lebte. Den wir nicht kennen. Und schon verlassen wir ohne weiter Kontrolle die Sperrzone.

Kurz danach stehen wir vor dem nächsten (auch architektonischen) Highlight: Der ukrainischen Zentralbank. Und so geht es unentwegt weiter: Wohnhaus von Puschkin, Statue von Katharina II, Chinesische Botschaft usw. usw. Wir wollen unsere geneigten Leser jetzt nicht langweilen. Interessant wird wieder der wunderschöne große Park ein Stück weiter, der bei der Majdanrevolution 2013/14 den tausenden von Oppositionellen als Zeltlagerheimstatt diente.

Jetzt ist er von spazierenden Familien mit ausgelassenen Kindern bevölkert – sowie von ganzen Herden von geführten Touristen mit Segway-Rollern. Die Dinger werden zur Plage (in Prag hat man sie schon verboten). Am Rand des Parks liegt der Marienpalast, der gerade gründlich saniert wird. Er steht auf sehr nachgiebigen Untergrund und ist daher ständige Baustelle. Direkt daneben das ukrainische Parlament, dem man wünscht, dass es auf stabilerem Grund steht. Von dort hat man auch einen tollen Blick auf den Dnjepr, der die Stadt durchschneidet – und im Vordergrund auf ein seltsames „Gebäude“ mit einem riesigen doppelten Hubschrauberlandeplatz. Was ist das denn? Es ist gar kein Gebäude, sondern wirklich nur ein Hubschrauberlandeplatz. Und zwar einzig für Poroschenko. Der Präsident wohnt etwa 20 km außerhalb, und wenn er zur Arbeit will, lässt er sich gern mit dem Quirl fliegen. Am Rande bemerkt: Die Durchschnittsrente in der Ukraine beträgt etwa 50 Euro.

Der Marienpalast

Wir schnüren weiter die Hauptstraße entlang weg vom Zentrum. Robert beschwichtigt uns: Ja, wir kommen noch zum Majdan, ganz gewiss. Am U-Bahnhof muss sich Inga leider verabschieden: Männe wartet daheim. Aber sie lädt uns noch zu sich nach Hause ein, wenn wir mit unserer Runde fertig sind. Robert kennt den Weg, meint sie. Zum Glück notieren wir uns ihre Adresse – was in Kiew kein einfaches Unterfangen ist: Es gibt die Bezeichnungen und Namen auf Ukrainisch und auf Russisch. Und das dann auch noch jeweils in kyrillischer und in lateinischer Schrift. Letzteres dann meistens auch noch in mehreren Varianten. Und damit soll man dann sein Navi füttern.

Luxusprobleme – aber eben Probleme.

Irgendwie werden wir nicht gefragt, ob wir überhaupt kommen wollen. Das Ganze ist voller unaufdringlicher Selbstverständlichkeit. Inga verschwindet in der Metro, und wir nehmen den Bus zum „Mutter-Heimat-Museum“. Rentner fahren in Kiew kostenlos. Aber nur einheimische. Olga zahlt für uns – etwa 12 Cent pro Person. Es sind übrigens Oberleitungsbusse. Sowas habe ich das letzte Mal vor 30 Jahren in Leipzig gesehen. Endstation, alles aussteigen. Ein irrer Trubel empfängt uns. Aber das verliert sich.

Das „Museum“ ist ein großer Park, und er ist angelegt worden von den Sowjets zur Erinnerung an ihre großen Schlachten und Siege. Jede Menge Panzer, Kanonen, Kampfhubschrauber, auch eine C47 (Douglas DC3). Dazu ein unfassbar dramatisch-kitschiges Monument stürmender Soldaten. Wer mehr wissen will, soll es googeln. Ich wende mich mit Schaudern ab.

Soldaten-Monument

Über allem erhebt sich die groteske Statue „Mutter der Heimat“. Ganz aus Edelstahl, 500 Tonnen schwer und über 100 Meter hoch. Es ist sogar möglich, im linken Arm, ähnlich der Freiheitsstatute in New York, bis oben hin zu klettern. Da sage ich nichts mehr.

Statue: Mutter der Heimat

Na ja, wir machen schon kehrt. Am Eingang gehen Olga und Julie noch in das sogenannte „Höhlenkloster“. Robert und ich warten draußen. Meine Füße melden Alarm. Die Mädels kehren bald zurück – begeistert. Na, in die eine Kirche gleich vorn gucken wir noch rein. Ach Herrje! Zwei Hutzelweiber am Eingang verfallen abwechselnd in Kreischalarm und Schnappatmung, als sie meine nackten Beine sehen. Wahrscheinlich raubt der Anblick der kurzen Hosen dem ausladenden Souvenirverkauf der beiden seine ausgemachte Heiligkeit. Was für eine Verlogenheit!

Jetzt aber flugs zurück ins Zentrum! Wieder mit dem O-Bus. Er ist überfüllt, aber trotzdem wird nicht aggressiv gedrängelt. Ich würde es freundliche Geduld nennen, eine Gelassenheit, die uns oft abgeht. Am Europaplatz steigen wir aus und latschen das kurze Stück zum Majdan. Also, im Fernsehen sah er anders aus. Erschreckend. Dramatisch.

Wasserspiele auf dem Majdan

Jetzt ist es ein großer bunter Platz: Schön ist er allemal, man kann nur nicht recht sagen, warum. Irgendwie spürt man auf diesem Platz die überbordende Lebendigkeit, die Kiew ausstrahlt. Diese Lebendigkeit spürt man auch, wenn man nur durchfährt. Der Platz wird von der Hauptstraße durchschnitten, nichts wirkt städtebaulich konstruiert wie beispielsweise der Potsdamer Platz in Berlin, sondern einfach über die Zeit gewachsen, aus sich selbst entwickelt. Es gibt Blumenbeete, eine gärtnerisch angelegte Uhr, Wasserspiele für Kinder und infantile Erwachsene – also auch für Julie und mich. Ein großes Eckgebäude ist verhüllt mit einem Tuch mit der riesigen Aufschrift: „Freedom ist our Religion“. Ich würde die Reihenfolge gern umdrehen: Unser Glaube ist unsere Freiheit.

Freedom is our Religion

Schließlich bummeln wir noch ein paar Meter durch das Innenstadtleben mit Musik, Kiosken, jungen Leuten, Künstlern und (wie man uns sagt) Taschendieben und landen schließlich wieder bei der Kirche.

Diese ist noch offen, und wir erneuern unsere Vitalkräfte mit kaltem Wasser und heißem Kaffee.

Äh – da war doch noch was? Richtig: Inga wartet! Roberts Handy klingelt, und wir werden ziemlich resolut herbeizitiert. Das Essen wird kalt.

Olga verabschiedet sich voller Herzlichkeit. Ob wir uns einmal wiedersehen werden?

Robert, Julie und ich erklimmen unseren Felix, um uns auf den Weg zu machen. Etwa zehn Kilometer sollen es sein. Moment mal – unser Felix hat doch nur zwei Sitze, auf denen unmöglich drei Personen sitzen können (haben wir in Marokko schon ausprobiert). Also: Julie und Robert sitzen vorn, ich klettere hinten in die Kabine, die allerdings eingeklappt für den Personentransport überhaupt nicht geeignet (und schon gar nicht zugelassen) ist. Da liegen unsere Campingstühle, unser Tisch, Kanister und solches Zeug drin. Also alles zusammengeschoben und mich dazugefaltet. Tür zu. Oho! Innentemperatur über 40 Grad, Luftfeuchtigkeit wie das Schwarze Meer. Unten. Und kein noch so leichter Luftzug.

Keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten. Robert kennt den Weg. Sagt er. Aber am Majdan gibt es eine Straßensperre, also muss Julie anders fahren, was Robert aus dem Konzept bringt. Er kennt sich nicht mehr aus, versucht aber trotzdem sein Bestes: Nach etwa 12 km Fahrt in den Süden Kiews zweifelt Julie dann doch an den Anweisungen und aktiviert das Navi. Ingas Haus liegt im Norden. Fazit: Nach über einer Stunde (!) Fahrt sind wir da. Ich bin fix und fertig, der Schweiß rinnt in Bächen, und das Essen ist kalt. Inga sieht, wie es mir geht, und zerrt mich schnurstracks ins Bad unter die Dusche. Julie gleich hinterher. Jetzt können wir auch Valery, den „Hausherrn“ (wir sind in der Ukraine), begrüßen. Und es geht zu Tisch. Die beiden haben wirklich aufgeboten, was der Garten und der Kühlschrank so hergeben. Es ist ein wundervoll fröhliche Runde! Habe ich schon erwähnt, dass Inga und Valery nur sehr eingeschränkt Deutsch sprechen? Nach kurzer Zeit spürt man davon gar nichts mehr. Wir verstehen uns prächtig. Und sonst kann Robert übersetzen.

Bei unserer Gastfamilie

Ein großes Problem ergibt sich: Im Auto können wir beim besten Willen nicht schlafen, dazu ist das Gelände viel zu steil. Wir können und sollen im Haus schlafen – aber die Gegend ist nach Einschätzung unserer Gastgeber nicht sie sicherste. Ungern würden wir unser Auto, das doch Begehrlichkeiten wecken kann, unbewacht draußen stehen lassen. Und für die Garage ist es zu groß.

Irgendwann sind Valery und Robert verschwunden. Dann erfahren wir, wozu: Sie haben ein Stück straßabwärts bei Nachbarn gefragt, ob wie das Auto bei ihnen aufs Grundstück stellen können. Klar doch. Kleines Problem: Der Zaun von ihnen hat kein Tor. Also wird kurzerhand der Zaun demontiert und beiseite gestellt. Felix wird reingefahren und der Zaun wieder eingebaut. Am nächsten Tag das Ganze natürlich wieder von vorn. Was für eine unfassbare Gastfreundschaft!

Das geht aber noch weiter: Mitten in der Nacht um halb drei schleicht Inga an uns vorbei nach draußen, um nachzuschauen, ob mit unserem Auto alles in Ordnung ist. Wir sind beschämt.

Und vor dem Aufstehen dasselbe noch mal. Ach ja, Robert hatte sich am Abend verabschiedet und war mit Bus und Bahn zurück zu seiner Wohnung gefahren. Hoffentlich.

Abschied von unserer Gastfamilie

Wir aber müssen uns jetzt auch schweren Herzens verabschieden. Es ist wundervoll, diese hinreißende Stadt kennengelernt zu haben. Und noch schöner, dass wir diesen Menschen begegnet und so nahe gekommen sind.

Wenn ich hier und da etwas bissig kritisch über dies und jenes der Stadt geschrieben habe: Nicht ernst nehmen. Das gehört zum Charme von Kiew alles dazu.

Zum Schluss ein kleines Beispiel dafür: Der Typ auf dem peinlichen Moped ist wahrscheinlich der einzige „Motorradrocker“ von Kiew mit seiner selbstgenähten „Kutte“, dem Badezimmerchrom am Moped und dem überfahrenen Stinktier auf dem Helm. Hier aber gehört er voll und ganz dazu.

Kiew ist nämlich eins: ANDERS

Motorrad Rocker